Einer der Höhepunkte der diesjährigen Igstadter Kulturtage war der Gala-Abend des Heimat- und Geschichtsvereins Igstadt in der Pfarrscheune. Gemeinsam mit dem Scheunentheater wurde die jüngere Siedlungsgeschichte des Ortes auf eine ganz besondere Art präsentiert. Um das Publikum nicht nur zu informieren, sondern vor allem zu unterhalten, wurden neue Wege beschritten. Nicht das Aneinanderreihen von Daten und Fotos von Straßen und Häusern bestimmte das Geschehen auf der Bühne, sondern ein Kaleidoskop aus Information und Schauspiel, Gesangseinlagen und Sketchen. Der Zeitgeist einer jeden Epoche der letzten 110 Jahre Siedlungsgeschichte wurde lebendig und erfahrbar.
Bereits beim Betreten der Pfarrscheune wurden die Gäste auf das Thema Siedlung und Bauen durch eine Fotoausstellung im Foyer eingestimmt. An diesem Abend wurden nicht nur Bauklötze gestaunt, sondern auch verbaut. So waren die Tische mit Holzbauklötzchen dekoriert, die Ingrid Dahl aus der alten Spielzeugsammlung ihrer inzwischen erwachsenen Söhne herausgefischt hatte. Viele der Gäste waren in historischen Kostümen erschienen und begaben sich ihrem Outfit entsprechend in würdevollen Schritten zu ihren Plätzen.
Pünktlich um 20.00 Uhr stolperten unter der Last ihrer Koffer Michael Weidenfeller und Ingrid Dahl auf die Bühne. Er, gekleidet in Gehrock und Zylinder, und sie als feine Dame im modischen 20er Jahre-Kleid und Diadem. Beide wirkten irritiert und gestresst. Hatten sie doch gerade noch den Zug verlassen können, bevor das von ihnen soeben fertig gestellte Haus von der Lokomotive zermalmt wurde. So zumindest hatte es den Anschein, denn Wolfgang Schreiber hatte auch dieses Mal wieder tief in die Filmkiste gegriffen, um den Auftakt des Abends virtuos zu inszenieren. Das mühsame Handwerk des Häuslebauers Buster Keaton und der herannahende Zug waren die perfekte Einstimmung für die Präsentation der Siedlungsentwicklung Igstadts und das 100-jährige Bestehen des Bahnhofgebäudes, das einen Tag zuvor über 200 Igstadter in die Hinterbergstraße gelockt hatte.
Nachdem sich Madame Ingrid den Staub aus dem Kleid geschüttelt hatte, verabschiedete sie sich ins „Bordbistro“, wo das freundliche Serviceteam mit Christine, Andrea und Oberkellner Michael für eine standesgemäße Bewirtung sorgten. So blieb der Herr alleine am Bahnsteig zurück, begrüßte die Gäste und bedankte sich für ihr Kommen. Sein Dank galt in allererster Linie dem Vorstandsmitglied Hans-Dieter Dörr, der durch das akribische Zusammentragen von Daten aus verschiedensten Quellen den Grundstein für die Präsentation der Siedlungsgeschichte legte. Durch intensive Recherche gelang es Hans-Dieter, das Baujahr eines jeden Hauses in Igstadt zu ermitteln und die jeweiligen Bauphasen mit Fakten zu hinterlegen. Sein dynamischer Ortsplan erleichterte die Orientierung. Doch was wären diese Zahlen ohne die entsprechenden Bilder aus dieser Zeit. Das Fotoarchiv des HGV reichte allein dafür nicht aus. Nur durch die Unterstützung vieler Igstadterinnen und Igstadter konnten Lücken geschlossen und viel neues Bildmaterial aufgearbeitet werden, wofür sich der HGV an dieser Stelle herzlich bedanken möchte.
Die unbeschwerte Zeitreise durch die Siedlungsgeschichte wurde durch die großartigen und thematisch abgestimmten Zwischenspiele des Igstadter Scheunentheaters zu einem kurzweiligen Vergnügen. Moderator und Ensemble spielten sich gegenseitig die Bälle zu, wobei der Humor auf beiden Seiten nicht zu kurz kam. Ob das Ausheben der Baugruben mit Claire Waldoffs „Wer schmeißt denn da mit Lehm“ begleitet wurde oder der „Konjunktur Cha cha cha“ das deutsche Wirtschaftswunder beschrieb, immer wieder gelang es, die Baugeschichte durch sorgfältig ausgesuchte Texte und Lieder in Szene zu setzen. Unter der Regie von Gerrit Voges und der musikalischen Begleitung von Richard Ewen und Sebastian Kastner verschmolzen Theater und Wissensvermittlung zu einer vom Publikum gefeierten Inszenierung.
Während den Recherchen zur Siedlungsgeschichte war aufgefallen, dass sich die Igstadter im Laufe der letzten 100 Jahre sehr selbstbewusst mit den Planungen für neue Siedlungen auseinander gesetzt hatten. Aus Sicht der Landeshauptstadt trotzte das unbeugsame Bergvolk im Osten immer wieder den Vorgaben und Vorstellungen der Stadtoberen. Sei es die erstrittene Eingemeindung zu Wiesbaden oder die erfolgreiche Verhinderung vielgeschossiger Hochhäuser. Ortsbeirat und Bürger/innen verhinderten durch ihr Engagement die eine oder andere Bausünde.
Ein besonders Raunen ging durch das Publikum, als der 2. Vorsitzende des HGV in seiner Präsentation die zukünftige Siedlungsentwicklung vorweg nahm. In einer nicht ganz ernst zu nehmenden Animation ließ er ein Villenviertel am Wäschbach entstehen, die vom Scheunentheater mit dem Lied der Prinzen „Ich wär so gerne Milllionär“ untermalt wurde. Doch Michael Weidenfeller konnte das Publikum beruhigen. Dass es zu einem derartigen Auswuchs vielleicht doch nicht kommen wird, liegt an den besonderen geologischen Verhältnissen. Das Villenviertel wäre im Nu durch Rutschungen zerstört, wie damals auch die Bahntrasse unmittelbar nach ihrer Fertigstellung. Bereits die alten Igstadter wussten, dass hier der Baugrund instabil war. Vielleicht ist das der Grund, dass sie dieser Flur den Namen „Esel“ gegeben haben. Denn nur ein Esel käme auf die Idee, hier in diesem Hang zu bauen.
Doch bevor es zu geologisch wurde, ergriff Ingrid wieder die Initiative und übernahm die Regie, um die Prämierung der eindrucksvollsten Kostüme einzuleiten. Als Jurorinnen betraten Sabine Engelhardt, Birgit Frenken und Christiane Jekel die Bühne und gaben das Ergebnis ihrer Bewertung bekannt. Den ersten Platz belegten Britta und Eberhard Meyer im strengen Gewand der Jahrhundertwende, gefolgt von Petra Vanscheid, Magret Döring und Monika Maxion. Als Repräsentatin der Hippie-Kultur konnte Nicole Hegner punkten.
Zum Abschluss des Gala-Abends durften alle noch einmal von Igstadt und einer schönen Zukunft träumen. Mit dem ABBA-Song „I have a dream, … I believe in Iiiiset“, endete der Abend. Alle waren sich einig, dass es sich das unbeugsame Bergvolk im Osten nicht nehmen wird, auch zukünftig ein Wörtchen mitzureden, wenn es um die weitere Entwicklung des Ortes gehen wird.
Von Michael Weidenfeller