Um die Jahrhundertwende lebten ca. fünf jüdische Familien in Igstadt. Man kann von sog. Landjuden sprechen, obwohl die Städte Wiesbaden, Frankfurt und Mainz so nahe gelegen sind. Aber die Erwerbstätigkeit dieser Juden und ihr Alltag entsprachen dem Landjudentum in Hessen, wie man es gleichermaßen auch in den umliegenden Gemeinden fand. Die Familien lebten vom Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, beispielsweise als Milchhändler, Viehhändler, Getreide- und Futtermittelhändler. Sie waren wirtschaftlich mit den Bauern des ‚Ländchens‘ verbunden. Es wird von Freundschaften berichtet.
Der Heimat- und Geschichtsvereins veröffentlichte im September 2014 die Publikation "Sie waren unsere Nachbarn. Geschichte und Schicksale jüdischer Familien aus Igstadt", in der diese Familien vorgestellt werden. Diese Publikation beschäftigt sich auch ausführlich mit dem Leben der Igstadter Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, mit ihrer Flucht, ihrer Emigration und ihrer Deportation in Ghettos oder Konzentrationslager. Das Igstadter Scheunentheater verband am 26. und 27. September 2014 in einer szenischen Lesung "Davon haben wir nichts gewusst" sehr einfühlsam das Schicksal von Mitgliedern der Familie Löwensberg und des Schülers Herbert Schiffer mit der antisemitistischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten. Dieses Wechselspiel vermittelte ebenso eindrucksvoll wie informativ die Lebenssituation dieser bedrohten Menschen. Diese Lesung wurde am 20. Januar 2015 im Sitzungssaal der Stadtverordneten im Wiesbadener Rathaus wiederholt. In einem Beitrag zu den jährlichen Gedenkveranstaltungen der Landeshauptstadt Wiesbaden "Erinnern an die Opfer" anlässlich der Befreiung des Konzentrationslages Auschwitz bietet das Scheunentheater 2021 die Lesung unter dem Titel "Sie waren unsere Nachbarn" an. Da die Präsenzveranstaltung am 31. Januar 2021 nicht stattfinden kann, wurde die Lesung aufgezeichnet und ist ab 31. Januar 2021 kostenfrei abzurufen unter www.momentmal.org. (Stand 29.01.2021)
Hier sollen die Igstadter Jüdinnen und Juden genannt werden, deren Namen weitgehend vergessen sind. Die Gründe für das Vergessen sind vielfältig. Sie unterscheiden sich in Igstadt nicht von den
Gründen, die deutschlandweit anzutreffen waren. Hierüber ist bereits gut und grundlegend national wie international geforscht und berichtet worden, so dass dies an anderer Stelle nachgelesen
werden kann. Wir erinnern an die jüdischen Mitbürger, die in Igstadt geboren wurden und/oder einen Teil ihres Lebens hier verbracht haben.
Sie alle haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen.
Hermine Löwensberg geb. Scheuer
*14.10.1876 in Monsheim, Tod am 12.10.1942 in Theresienstadt
Hermine lebte seit ihrer Eheschließung 1903 mit dem Tuchhändler Max Löwensberg in Igstadt. Die Ehe blieb kinderlos, Max verstarb 1925. Im Frühsommer 1939 verließ Hermine Igstadt, nachdem sich die
Gesetze für jüdische Mieter geändert hatten. Sie war die letzte jüdische Einwohnerin Igstadts. Ab 21. Juni 1939 bis zu ihrer Deportation lebte sie in Wiesbaden, Geisbergstraße 24, einem
ehemaligen israelitischen Schwesternheim. Am 1. September 1942 wurde sie von der Schlachthoframpe über Frankfurt nach Theresienstadt deportiert. Hermine starb zwei Tage vor ihrem 66. Geburtstag.
Julius Löwensberg
*26.04.1875 in Igstadt. Julius, alleinstehend, lebte und arbeitete in Frankfurt.
Julius war der organisatorische Unterstützer der Großfamilie Löwensberg und kümmerte sich um die Belange der Igstadter und Frankfurter Familienmitglieder. Mit der Familie seiner Schwester Julie lebte er zeitweise im gleichen Haus in Frankfurt. Nachdem seine Schwester Julie verwitwet war, nach weiteren Entrechtungen und Enteignungen, mussten Julius und Julie im Mai 1941 in ein Judenhaus ziehen. Julie starb am 8. August 1941 an Brustkrebs lt. Sterbeurkunde. Julius wurde am 22.11.1941 deportiert und am 25.11.1941 in Kowno erschossen.
Bella Löwensberg geb. Strauß
*05.04.1889 in Marburg. Bella kam 1911 nach ihrer Heirat mit Hugo Löwensberg (verst. Januar 1937) nach Igstadt. Sie verließ Igstadt im Herbst 1937 und lebte bis zu ihrer Deportation in
Frankfurt.
Zu dem Datum ihrer Deportation gibt es unterschiedliche Angaben. Eine Zeugenaussage spricht vom 11.11.1941 nach Minsk. Eine Gestapo-Unterlage verzeichnet jedoch als Datum den 24.05.1942 in das
Ghetto Izbica/Polen. Es fehlt eine Transportliste. Von Bella gibt es keine Spur.
Rosa Löwensberg (Tochter von Bella und Hugo)
*23.04.1912 in Igstadt; Juni 1934 Emigration nach Palästina
Martha Löwensberg (Tochter von Bella und Hugo)
*26.09.1915 in Igstadt; Sommer 1933 Emigration nach London
Hellmuth Löwensberg
*17.09.1890 in Igstadt; 30.12.1936 Emigration nach Buenos Aires
Hellmuth lebte mit seiner Familie in Igstadt, die Kinder gingen hier und in Wiesbaden zur Schule.
Else Löwensberg, geb. Strauß, Ehefrau von Hellmuth und Schwester von Bella;
*29.05.1895 in Marburg; April 1937 Emigration nach Buenos Aires mit den Kindern
Edda *14.09.1922 in Mainz/Igstadt und
Leopold *06.06.1925 in Mainz/Igstadt
Karl Löwensberg *16.01.1892 in Igstadt. Karl lebte und arbeitete in Frankfurt.
17.10.1939 Ankunft in Buenos Aires. Karl versuchte mit Ehefrau Hedwig und Mutter Sophie im September 1939 nach London auszureisen, um von dort gemeinsam mit Sohn Ernst nach Buenos Aires zu
emigrieren. Wegen des Kriegsausbruchs gelang dies nicht mehr, das Schiff musste umkehren. Die Familie konnte kurze Zeit später über Neapel mit dem Schiff Neptunia emigrieren. Der Besitz, der in
zwei Containern verpackt war, konnte nicht mitgenommen werden und wurde 1944 von den Nazis im Hafen von Amsterdam endgültig beschlagnahmt.
Hedwig Löwensberg geb. Adler, Ehefrau von Karl;
*02.01.1902 in Halle; 17.10.1939 Ankunft in Buenos Aires
Ernst Löwensberg (Sohn) *21.04.1925 in Frankfurt;
gelangte im April 1939 nach England und von dort am 24.07.1940 nach Buenos Aires. Dort sah der inzwischen 15-Jährige nach der langen Zeit der Trennung und Ungewissheit seine Eltern wieder, ebenso
seine Großmutter Spophie und weitere Familienmitglieder.
Sophie Löwensberg geb. Heymann
*08.11.1856 in Biblis; lebte seit der Eheschließung mit Leopold (verst. 1913) von 1889 bis 1937 in Igstadt. Sie zog nach dem Hausverkauf in Igstadt und der Emigration ihres Sohnes Hellmuth 1937
nach Frankfurt. Einreise in Buenos Aires mit Sohn Karl und Schwiegertochter Hedwig am 17.10.1939. Sophie war bei der Überfahrt nach Argentinien 83 Jahre alt.
Josef Schiffer *08.06.1889; Dentist, lebte und arbeitete in Igstadt.
15.07.1939 Flucht nach Antwerpen, Belgien; 29.08.1942 Deportation von Sammellager Mechelen nach Auschwitz; 31.12.1942 Ermordung in Auschwitz
Martha Schiffer geb. Fried, Ehefrau von Josef;
*02.06.1894 in Nordenstadt; 15.07.1939 Flucht nach Antwerpen, Belgien; 29.08.1942 Deportation von Sammellager Mechelen nach Auschwitz; 31.12.1942 Ermordung in Auschwitz
Herbert Schiffer *19.07.1928; Schulkind in Igstadt von 10.04.1934 bis 26.03.1936;
15.07.1939 Flucht mit seinen Eltern nach Antwerpen, Belgien; 29.08.1942 Deportation von Sammellager Mechelen nach Auschwitz, Außenlager Cosel; 31.12.1942 Ermordung in Cosel. Herbert war mit 14
Jahren das jüngste Igstadter Opfer. Bereits 1936 musste er die Igstadter Schule verlassen, da keine jüdischen Kinder beschult werden durften. Er besuchte die neu gegründete jüdische Schule in der
Mainzer Straße bis zur Flucht der Familie.
Kätchen Löwensberg geb. Stern
*03.01.1853 in Meudt; Sie kam als Ehefrau von David Löwensberg (verst. 1900) nach Igstadt. Ihre Kinder Johanna, Isidor und Grete wurden in
Igstadt geboren. Ab Juni 1885 lebte die Familie in Meudt/Montabaur. Kätchen zog in den 1920ern oder 1930ern zu Tochter Grete nach Frankfurt.
18.08.1942 Deportation von Frankfurt nach Theresienstadt;
31.08.1942 Tod in Theresienstadt; Kätchen Löwensberg war bei der Deportation 89 Jahre alt.
Grete Mainzer, geb. Löwensberg (Tochter von Kätchen und David); *15.07.1883 in Igstadt; 19.10.1941 Deportation von Frankfurt nach Lodz; 22.08.1942 Ermordung in Lodz mit Ehemann
Gustav Mainzer (verst. 04.08.1942); Tochter Irma konnte nach Palästina emigrieren, die Söhne Otto und Erich in die USA.
Isidor Löwensberg (Sohn von Kätchen und David);
*29.01.1882 in Igstadt; promovierter Arzt, lebte in Köln, Berufsverbot;
1938 Emigration mit Ehefrau Johanna und den beiden Kindern über New York nach Montevideo/Uruguay
Johanna Cahn geb. Löwensberg, *1879 in Igstadt, starb 1933 in Düren und ist auf dem dortigen jüdischen Friedhof bestattet.
Feodora Schapiro
*24.01.1908 in Igstadt. Familie Schapiro zog 1909 nach Mainz. Feodora heiratete den Wormser Juden Friedrich Ziegellaub im französischen Exil 1934 und konnte
mit ihm im Dezember 1935 nach New York emigrieren. Ihre Schwester Rebekka Anna und ihr Bruder Bernhard - beide in Mainz geboren - sind ebenfalls in die USA emigriert wie auch die Eltern Joseph
und Paula. Die Familien Schapiro und Münz wohnten um die Jahrhundertwende in der heutigen Altmünsterstraße, die jeweiligen Mütter Paula und Clara geb. Birnbaum waren Schwestern. Miriam
Ziegellaub, Tochter von Feodora, und Judith Levi, Tochter von Rebekka, haben dem Heimat- und Geschichtsverein (HGV) dankenswerterweise im Februar 2014 wertvolle Informationen zu den Familien
Schapiro und Münz zur Verfügung gestellt.
Geschwister Münz
Die in Igstadt geborenen Kinder von Moses Moritz und Klara Münz, Mina, *15.02.1901, Ida, *24.05.1903, und
Arthur, *16.03.1905, haben - wie ihre in der Ukraine geborenen Geschwister - den Holocaust überlebt. Die letzte Spur Arthurs ließ das Rechercheteam des HGV Schlimmes
befürchten. Sein Name fand sich auf der „Opferliste der politisch und rassisch verfolgten jüdischen Studenten 1933-1938 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin“, wo er bis 1933 als
Medizinstudent eingeschrieben war. Er hatte jedoch überlebt. Judith Levi, Großnichte von Arthurs Mutter Klara, konnte den HGV über den Werdegang der Geschwister Münz in Israel/Haifa (Rebekka,
Ida, Siegfried, Arthur), den USA/New York (Josef), der Schweiz/Genf (Elisabeth) und in Südfrankreich (Mina) informieren. Recherchen in einem anderen Zusammenhang entdeckten 2022 eine Spur zur
Rebekka Münz, die 1910 in Wiesbaden als Hebammenschülerin abgelehnt wurde. Siehe hierzu den folgenden Bericht im PDF-Format. Elisabeth Münz unterrichtete in Frankfurt, bis sie 1935 aus dem
Schuldienst entlassen wurde. Ihre Ehe mit dem Journalisten Erich Achterberg, verheiratet seit 1920, wurde 1938 geschieden. Da lebte Elisabeth mit ihrem Sohn bereits in der Schweiz.