Die Siedlung in der Florian-Geyer-Straße
Zu Beginn der 1920er Jahre waren die Folgen des verlorenen Krieges noch überall spürbar. Die Inflation, der Verlust von Ersparnissen, die Wohnungsnot, zudem die fehlende Stabilität der jungen Weimarer Republik und die gewaltsamen Auseinandersetzungen von linken und rechten Gruppierungen, das sind nur einige Aspekte dieser unruhigen Zeit. Dennoch gab es in Igstadt Mut, Zuversicht und Selbstvertrauen. Am 10. April 1924 traf sich eine Gruppe von Personen im Igstadter Rathaus, die der Wohnungsnot durch ein ambitioniertes Bauvorhaben in Eigenregie ein Ende bereiten wollte. Dies war kein spontanes Treffen und es darf angenommen werden, dass es vor dieser Versammlung zahlreiche informelle Gespräche zur Vorbereitung gab. Bereits in der ersten öffentlichen Versammlung zu dem alleinigen Thema „Siedlungsbau“ fanden sich bauwillige, engagierte und letztlich auch risikobereite Menschen, die sich sofort eine Organisationsform gaben.
In dem Protokollbuch „Berichte der Versammlungen der Siedlervereinigung ‚Eigenes Heim‘, Igstadt“ ist zu lesen:
„1. Zusammenkunft:
Durch den allgemeinen Wohnungsmangel veranlaßt, beschlossen mehrere hiesige Mieter, am 10. April 1924 eine Versammlung im hiesigen Rathaus einzuberufen, um eine Siedlervereinigung zu gründen und
gemeinschaftlich mit gemeinsamen Fleiß und finanziellen Opfern den Wohnungsmangel zu beheben und sich ihr eigenes Heim zu zimmern. Die Versammlung war gut besucht, und ging sofort dazu über, den
Verein zu gründen und einen Vorstand zu wählen. Die Wahl hatte folgendes Ergebnis:
Vorstand: 1. Vorsitzender: Herr Lehrer Schimmel; 2. Vorsitzender: Herr Karl Horne; Schriftführer: Herr Emil Dehl; Kassierer: Herr Wilhelm Wagner; Bauleiter: Herr August Stemmler; Beisitzer: Herr
Franz Schlüter; Herr Karl Mai; Herr Adolf Füll
Daraufhin übernahm Herr Lehrer Schimmel die Geschäfte des Vereins und ließ auf einer Liste sämtliche Mitglieder eigenhändig einzeichnen. Es zeichneten sich 37 ein. Nun schlug Herr Schimmel vor,
den Verein eintragen zu lassen, was allgemein zugestimmt wurde. Auch wurde über das in Frage kommende Baugelände gesprochen und die Weinbergstücke hinter dem Turnplatz vorgeschlagen. Man kam sich
darüber überein, Herrn Architekt Vinz aus Bierstadt als Fachmann zuzuziehen und dessen Gutachten zu hören. Sodann sollte an die Gemeinde Igstadt um Beschaffung durch Kauf oder Tausch von
Baugelände herangetreten werden. Statuten mußten aufgestellt werden, und zwar wurden diese außer kleinen Änderungen nach dem Schema deren der Nordenstadter Siedlung verfaßt. An Monatsbeiträgen
wurden 50 Pfennig festgesetzt, das Eintrittsgeld mit 4.- Mark als genügend erachtet, sowie einen Baubeitrag von wöchentlich mindestens 3.- Mark zu erheben. Mithin war das Fundament dem Verein
gegeben und die Versammlung wurde geschlossen.
Schluß der Versammlung 11 1/2 Uhr.
v.g.u. AugSchimmel, Emil Dehl, Franz Schlüter“
Was ist das Besondere an der Siedlervereinigung „Eigenes Heim“?
Die Siedlervereinigung war ein rechtlich unabhängiger Verein, der in Eigenregie und Selbstverwaltung eigenen Wohnraum schaffen wollte. Durch die Einlagen seiner Mitglieder und seine Organisation ist er vergleichbar mit einer Genossenschaft. Bis auf den 1. Vorsitzenden, den Lehrer August Schimmel, waren die Mitglieder Arbeiter und Handwerker. Als Berufe sind Tüncher, Maurer, Schneider, Zimmermann, Schlosser, Spengler, Bahnarbeiter und Dachdecker zu lesen. Einige Siedler gehörten dem 1920 gegründeten Igstadter Gewerkschaftskartell an. Die Mitglieder des Vereins waren zu gegenseitiger Hilfe sowie zur Absolvierung von Arbeitsstunden verpflichtet. Diese Eigenleistung wurde mit 1 Goldmark/Stunde bewertet und als ein Element zur Bezahlung des Kaufpreises eingesetzt. Geriet jemand mit seinen Pflichtstunden in Verzug, wurde dies im Rahmen einer Vorstandssitzung angemahnt und sanktioniert. Die Mitglieder hatten einen Mitgliedsbeitrag und ein wöchentliches Baugeld zu zahlen, das immer wieder an die Kostensituation angepasst werden musste. Bereits in den ersten zwei Jahren wurde das wöchentliche Baugeld von drei auf zunächst vier, dann auf fünf Mark erhöht. Die wöchentliche Pflichstundenzahl betrug 15 bzw. 20 Stunden. Wie die Protokolle verdeutlichen, war die Umsetzung des Bauprojekts sehr zeitaufwändig und arbeitsintensiv, da im Grundsatz eine größtmögliche demokratische Beteilung der Mitglieder angestrebt war.
Die folgenden Jahre
Mit der Vereinsgründung waren die Ziele für die folgenden Jahre formuliert. In knapp über 100 Zusammenkünften, jeweils sorgfältig protokolliert, wurde angestrebt, alle mit dem Bauvorhaben auftretenden Fragen und Probleme gemeinsam zu lösen. Einen ersten Erfolg erzielten die Siedler, als sie bei der Gemeinde die Zuweisung von Flächen im Distrikt „Schafweide“ am Wäschbach als Baugebiet erhalten konnten. Nach längeren Verhandlungen konnte man auch Einigkeit über den Kaufpreis/Rute, die Zahlungsmodalitäten und die Aufteilung der Erschließungskosten erwirken. In dem ersten Bauabschnitt sollten 16 Doppelhäuser und drei Einzelhäuser entstehen. Finanzierungsfragen drückten die Siedler ebenso wie Beschaffungsprobleme von Baumaterialien, die Wahl von geeigneten Handwerkern, die Bewertung von Angeboten, die Einhaltung von Terminen sowie die Überwachung der Ausführungsqualität.
1925: Aus dem Erschließungsweg wird die Friedrich-Ebert-Straße
Am 9. März 1925 stellte das Gewerkschaftskartell, die spätere SPD-Fraktion, im Igstadter Gemeinderat den Dringlichkeitsantrag, die neue Straße zu Ehren des im Februar verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich-Ebert-Straße zu nennen. Dem Antrag wurde stattgegeben. 1933, als die Nationalsozialisten sogar den Wiesbadener Schlossplatz in Adolf-Hitler-Platz umbenannten, musste auch der Name des geächteten Sozialdemokraten in Igstadt weichen. Der fränkische Bauernführer Florian Geyer wurde der neue Namensgeber. Eine Zurückbenennung erfolgte nicht mehr, da es in Wiesbaden-Kloppenheim bereits eine Friedrich-Ebert-Straße gab und im Stadtbezirk Doppelbezeichnungen vermieden wurden.
Erste Rohbauten bereits 1925 und Auflösung des Vereins 1932
Während des Winters 1924/1925 wurden die Steine für die Häuser selbst hergestellt mit Unterstützung von Arbeitern aus dem „Notstand“ und ab dem Frühjahr wurde gemauert. In drei Etappen wurden im Juni, Juli und September 1925 die Doppelhäuser untereinander zugelost, die drei Einzelhäuser waren von dem Losverfahren ausgeschlossen. Im Juni 1928 berichtet das Wiesbadener Tagblatt über die Fertigstellung der 19 Häuser, dem ersten Bauabschnitt. Im Januar 1932 löst sich die Siedlervereinigung „Eigenes Heim“ auf. Der Grund hierfür waren Schwierigkeiten mit dem Notstandsdarlehen, für das die Vereinigung als Darlehensnehmerin eingetragen war. Hinter den Siedlern und ihren Familien lagen arbeits- und entbehrungsreiche Jahre. Hierfür entschädigen jedoch ihre schönen Häuser und die gute Gemeinschaft innerhalb der neuen Siedlung.
Der Heimat- und Geschichtsverein wird in einer Publikation Ende 2025 die Geschichte der Siedlervereinigung ausführlich dokumentieren.